Medizin-Geschichten

Die Heilpflanze des Monats August 2015
Kurioses, Bizarres, Interessantes

Folge 40: Fingerhüte (Digitalis-Arten)

Vor allem an Waldrändern und auf Lichtungen stehen sie aufrecht und wenden sich dem Licht zu: die Fingerhüte. Auf die Form der Blüten, die in etwa an die Finger eines Handschuhs erinnern, beziehen sich sowohl der deutsche Name, als auch der lateinische („Digitalis“ kommt von digitus, der Finger). Im Englischen heißt die Pflanze „Foxglove“, also Handschuh des Fuchses. Es gibt dort aber auch andere Bezeichnungen wie „Witches‘ Gloves“ (Handschuh der Hexen) oder sogar „Dead Men’s Bells“ (Totenglocken), die auf die Giftigkeit des Fingerhuts hinweisen. 

Gelber Fingerhut Ebenfalls bei uns heimisch ist der Gelbe Fingerhut (Digitalis lutea). Bestäuber der Fingerhüte sind vor allem Hummeln. Nur sie können in die Blütenkelche hineinkriechen und haben eine genügend lange Zunge. Die Zunge von Bienen etwa ist nicht lang genug, um an den Nektar der Fingerhüte zu gelangen.

Foto: Armstrong

 

Alle Pflanzenteile sind hochgiftig. So soll bereits der Verzehr von zwei bis drei getrockneten Blättern des Roten Fingerhuts zu einer tödlichen Vergiftung führen können. Alle Fingerhüte enthalten Digitaloide (etwa 100 verschiedene herzwirksame Steroidglykoside oder Kardenolide). Der Gehalt dieser Glykoside ist unterschiedlich hoch bei den verschiedenen Digitalis-Arten. Er schwankt auch je nach Tages- und Jahreszeit zwischen 0,1 und 1 %. Nachmittags ist der Gehalt höher als am Vormittag. Die Symptome einer Fingerhutvergiftung sind Übelkeit und Erbrechen, das tagelang anhalten kann. Es folgen Sehstörungen, verminderte Pulsfrequenz, teilweise unter 50 Schlägen, im weiteren Vergiftungsverlauf auf unter 20 Schlägen pro Minute sinkend. Trotzdem steigt der Blutdruck an, es kommt zu Herzrhythmusstörungen. Dann kann es sogar zum Herzstillstand kommen.

Wollfingerhut Auf ihn geht das Herzmittel Digoxin zurück: der Wollige Fingerhut (Digitalis lanata). Seine Blätter enthalten besonders große Mengen an hochgiftigen Digitalisglykosiden. Und aus ihnen wurde Digoxin 1930 zum ersten Mal isoliert. Alle Digitalis-Arten sind giftig, auch für Tiere wie Pferde, Rinder und Kühe, Ziegen, Hunde und Katzen, Hasen und Kaninchen, Meerschweinchen und Hamster sowie für Vögel. Vergiftung zeigt sich in Erbrechen, blutigem Durchfall; die Tiere sind benommen und taumeln, es kommt zu Herzrhythmusstörungen und bei entsprechend starker Vergiftung zum Herzstillstand. Für Pferde liegt die tödliche Dosis bei 25 g der getrockneten und 100 - 200 g der frischen Blätter. Rinder können bis zu 150 g der getrockneten Blätter vertragen; für Hunde allerdings sind 5 g bereits tödlich.

Foto: Armstrong

Besonders viele Glykoside enthält der Wollige Fingerhut (Digitalis lanata). Die Wirkung soll dreimal höher sein als die der Glykoside des Roten Fingerhuts (Digitalis purpurea). Digoxin wirkt auf den Herzmuskel und ist 1930 zum ersten Mal aus den Blättern des Wolligen Fingerhuts isoliert worden. Digitalis aus dem Roten Fingerhut wurde dann zu einem wichtigen Herzmittel, etwa bei Herzinsuffizienz.
Eine bedeutende traditionelle Heilpflanze also – sollte man denken. Doch weder in der Antike noch im Mittelalter wurde den Fingerhüten eine große Bedeutung beigemessen. Ende des 16. Jahrhunderts heißt es in einem deutschsprachigen Kräuterbuch, man könne mit diesen Pflanzen nichts anfangen: „Wozu diese Kreuter zu gebrauchen seyn/ finde ich nicht bey den Authorn.“

Anders bei den Kelten in Irland und Wales. Hier war der Rote Fingerhut als Mittel der Volksmedizin seit dem 5. Jahrhundert in Gebrauch, auch gegen den bösen Blick. Im mittelalterlichen England wurde die Pflanze dann ebenfalls eingesetzt, etwa als Brechmittel, zur Förderung des Auswurfs bei Bronchitis und um 1700 sogar gegen die Schwindsucht.

Doch im Jahr 1748 gab es in Paris vor der „Académie française“ einen aufsehenerregenden Bericht über die ersten Digitalis-Experimente. Nach Verfütterung von Fingerhut-Blättern an Truthähne wirkten die Vögel wie betrunken, sie zuckten und starben schließlich. „Beim Öffnen fanden wir das Herz, die Lungen, die Leber und die Gallenblase geschrumpft und ausgetrocknet, der Magen war ganz leer, aber nicht seiner rauen Haut beraubt", hieß es in der Veröffentlichung zu diesen Experimenten. Die Giftigkeit von Digitalis war damit bewiesen. Danach wurde auch die englische Ärzteschaft wieder sehr zurückhaltend in ihrem Gebrauch.

Eine feste Stelle in den Offizinen erhielt der Fingerhut erst durch den englischen Arzt William Withering (1741-1799), der 1775 anfing, ihn gegen Wassersucht zu verordnen. Wie es dazu kam, ist fast eine Geschichte von Industriespionage:

Withering hatte von den großen Erfolgen einer Kräuterfrau bei Wassersucht mit einer neuen Heilpflanze gehört. Withering wollte von ihr wissen, welche Pflanze sie einsetzte. Doch sie wollte das Geheimnis behalten und verriet dem berühmten Arzt nichts. Withering ärgerte sich und ließ die Kräuterfrau heimlich beobachten, wenn sie Pflanzen sammelte. So fand er heraus, dass es sich um den Fingerhut handelte. Und er beschäftigte sich dann seinerseits mit dieser giftigen, aber heilenden Pflanze.

Im Jahre 1776 veröffentlichte Withering eine erste kleine Abhandlung über die Heilkräfte der Droge und machte noch im gleichen Jahr bei einem Konsilium andere Ärzten und Freunde darauf aufmerksam. Darunter Erasmus Darwin (1731-1802), einen Arzt, Dichter, Botaniker, Erfinder und Großvater von Charles Darwin.

Erasmus Darwin befasst sich daraufhin ebenfalls eingehend mit dem Fingerhut und veröffentlichte 1780 eine Studie über dessen Heilkräfte. Im Jahr 1785 schließlich erschien Witherings große Abhandlung über den Fingerhut und seinen medizinischen Nutzen, die berühmt wurde und die Anwendung von Digitalis überall bekannt machte. All das basierend auf dem Ausspionieren einer erfolgreichen Kräuterfrau. Doch „gestohlenes Hemd hält nicht lang“, geht eine Redensart. Und so auch in diesem Fall.

Denn nicht allzu lange nach Witherings Veröffentlichung kam die Entwicklung der Digitalis-Therapie zu einem Stillstand. Digitalis war zu einer Art Modedroge geworden, die bei immer mehr Indikationen eingesetzt wurde. Das konnte nicht gut gehen und führte auch zu vielen Misserfolgen. Witherings Thesen gerieten in Vergessenheit, und viele berühmte Ärzte jener Zeit lehnten die Droge dann sogar grundsätzlich ab.

Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts konnte sich die Digitalis-Therapie allgemein durchsetzen.

Quellen:

u.a. Gerhard Madaus: „Bioheilmittel“ und verschiedene Internetseiten, etwa die der Informationszentrale gegen Vergiftungen der Uniklinik Bonn

Ursula Armstrong | Redaktion | Sperberweg 2 | D-82152 Krailling | Telefon: +49 (0) 163 / 313 21 10 | e-mail: mail@uschi-armstrong.de | www.redaktion-armstrong.de
Roter Fingerhut Wegen seiner Blütenkelche wird der Rote Fingerhut auch Waldglöckchen genannt. Der Rote Fingerhut (Digitalis purpurea) ist die in Mitteleuropa am meisten verbreitete Fingerhut-Art; er wird 30 bis150 cm hoch und blüht von Juni bis August. Die roten, mitunter auch weißen Blüten hängen in einer Traube am oberen Teil des Stängels und weisen alle in eine Richtung. Bei Pflanzen, die in der vollen Sonne wachsen, sollen die Blüten immer nach Süden zeigen – wie ein natürlicher Kompass.

Foto: Armstrong

 

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